Lesung
Das Dasein als Dauer-Performance — Baumeister und Kebelmann

„Wir sind da, um Auskunft zu geben!“ Kann man eine Lesung programmatischer beginnen? Die blinden Autoren Pilar Baumeister und Bernd Kebelmann überzeugten ihr Publikum mit viel Humor – und überraschenden Weisheiten.
Die Fragen, die ihrem Publikum üblicherweise auf der Seele brennen, kennt Pilar Baumeister natürlich längst, aber sie beantwortet sie gerne und immer wieder – auch wenn sie einschränkt: „Blindheit ist eigentlich nur ein Thema für die Sehenden. Für uns als Autoren ist es wichtiger, dass wir schreiben können.“
Sie selbst ist 1948 in Barcelona ohne Augenlicht zur Welt gekommen und lebt seit 1979 in Köln. Sie studierte englische, russische und deutsche Philologie und wäre liebend gerne Lehrerin geworden. „Aber vor 30, 40 Jahren war es unvorstellbar, dass eine blinde Lehrerin sehende Schüler unterrichtet.“ Also arbeitete Baumeister als Fremdsprachenkorrespondentin und promovierte. Ausgleich fand sie stets in der Literatur. Sie schreibt Lyrik, Kurzprosa und Essays, gehört dem Schriftstellerverband NRW an und ist Sprecherin der Autoren mit Migrationshintergrund.
Ihre Freude an der Literatur gibt Baumeister gerne weiter. „Wir hatten heute Morgen schon eine Lesung in einer Schule in Bielefeld.“ Solche erfüllten Tage im Dienste der guten Sache liebt sie offenbar – und ebenso, das Publikum herauszufordern, das am Abend in der Kulturkirche Ost wohl deutlich zurückhaltender reagierte als die Schulkinder am Vormittag. Immerhin – ein Zuhörer traute sich und fragte nach dem offensichtlichsten Problem blinder Autoren: der Beschreibung der Dinge als solcher, zum Beispiel von Landschaften. Pilar Baumeisters Antwort, so trocken wie pointiert: „Ach, wissen Sie: Kafka hat auch nicht viele Landschaftsbeschreibungen.“
Dieser Humor blitzt immer wieder auch durch ihre Texte, die ihre ureigensten Ängste und Gefühle ebenso zum Thema haben wie politische Einordnungen oder skurrile Phantasien. „Als ich in den Himmel kam, war ich beeindruckt“, las sie etwa aus ihrer Kurzgeschichte „Das 11. Gebot“. „Gott ist der beste Imitator, den ich je gesehen habe. Am liebsten bitte ich ihn, mich selbst nachzumachen.“
Mögliches unmöglich machen
Mit Humor nimmt auch Baumeisters Kollege Bernd Kebelmann das Leben, das es nicht immer gut mit ihm meinte. 1947 in der Nähe von Berlin geboren, arbeitete er als Diplom-Chemiker in Industrie und Forschung, ehe sein Augenlicht zu schwinden begann. Er gründete die europaweite Initiative „Lyrikbrücke“, über die er auch Pilar Baumeister kennenlernte. Mit ihr las er das Gedicht „Menschliche Landschaft“ auf Deutsch und Spanisch synchron. Ein Auszug:
Wir haben das Land nicht geschaffen
Wir haben das Land geschafft
So erweitern wir unsere Möglichkeiten
Und machen sie unmöglich.
In der Kulturkirche war es an diesem Sommerabend zu hell, um eine Dunkellesung zu veranstalten, wie Kebelmann sie über Jahre hinweg in ganz Deutschland organisiert hat. In eine ähnliche Richtung geht auch seine zweite Veranstaltungsreihe mit dem Titel „Tastwege“, bei der Skulpturen im Dunkeln ausgestellt werden. „Die Augen sind schnell, aber oberflächlich“, erklärte Kebelmann. „Wenn uns der Augenschein genommen wird, beginnen neue Erfahrungen.“ Die Besuchern seiner Ausstellungen ertasten sich die Kunst, anstatt sie nur oberflächlich abzuscannen. Kebelmann selbst transformierte seine Tasterlebnisse in Texte. „So wurde aus Skulpturen Lyrik, aus Kunst wieder Kunst.“
Bei aller Erfahrung jenseits des Augenscheins – Kebelmanns Texten merkt man an, dass der Autor die Dinge, die er beschreibt, einmal gesehen hat. Wie in seiner Erzählung vom jungen Soldaten Achmed, der mit amputiertem Bein und blind in einem deutschen Krankenhaus aufwacht und sich plötzlich in der ihm völlig fremden ostdeutschen Wirklichkeit des Jahres 1986 zurechtfinden muss („Charité 1986“).
Die Eigenheiten seines Lebens – und wohl auch des Lebens von Pilar Baumeister – bringt Kebelmann so auf den Punkt: „Mein Dasein ist eine andauernde Performance. Ich muss ständig Rollen spielen, die ich mir nicht aussuche.“ Das freilich trifft auf alle Menschen zu, ob sehend oder nicht. Kebelmann geht aber weiter: „Es ist unsere ganz persönliche Fähigkeit, das Anderssein anzunehmen.“ Damit meint er auch Pilar Baumeister, die eins ihrer Gedichte so betitelt und auch genauso lebensbejahend meint: „Die Hymne der Behinderten“.
Aktuelle Infos und Terminhinweise finden Sie auf der Facebook-Seite der Kulturkirche Ost.