Musikalische Lesung mit Maria Knissel
Sprache ist mehr — Musikalische Lesung über zwei Brüder, die über eine Behinderung hinweg zueinander finden.

Wie empfindet ein Teenager, der zusehen muss, wie der ältere Bruder von einem Tag auf den anderem zum Pflegefall wird? Wie fühlt man sich, wenn man als 15-Jähriger vom Geschichtslehrer auf die fehlenden Hausaufgaben angesprochen wird, und dabei nur denkt: „Du weißt nicht, wie es ist, wenn dir gegenüber ein Zombie sitzt, der einmal dein großer Bruder war, und der ein Abführmittel kriegt, weil er nicht einmal mehr selbst kacken kann!“
Mit ihrem Roman „Drei Worte auf einmal“ nimmt die Autorin Maria Knissel kein Blatt vor den Mund. Sie erzählt die Geschichte von Chris, der am liebsten immer nur Saxofon spielen möchte; so lange, laut und schräg, wie er nur kann, und Klaus, der durch einen Unfall mit 20 Jahren das Sprechen, die Beweglichkeit seiner Beine und die Kontrolle über fast alle Körperfunktionen verliert. Eine Familientragödie, welche die Eltern der beiden Jungs in eine emotionale Sprachlosigkeit stürzt und aus dem beschaulichen Glück einer Kindheit im Deutschland der 1970er Jahre eine Herausforderung macht, die sich nur mit viel Kreativität und Liebe meistern lässt.
In der Auferstehungskirche in Buchforst las Maria Knissel Passagen aus ihrem Werk vor. Begleitet wurde sie dabei vom Saxofonisten Stephan Völker, dessen Geschichte sie zu „Drei Worte auf einmal“ inspiriert hat. „Es ist ein Roman, und keine Biografie“, betont die Autorin. Ein Hinweis, der es dem Publikum erleichtert, im kleinen Raum des Kirchenschiffs so nah an den beiden Künstlern zu sein und zugleich so bewegende und anschauliche Details aus dem Leben mit einem schwerstbehinderten Menschen zu hören. Die Zuhörer können das Vorgelesene abstrahieren oder auch es auf den Musiker beziehen, der vor ihnen sitzt und mit seinen Stücken immer wieder ein Brücke schlägt zwischen Chris und sich selbst.
Manche seiner Anekdoten bringen zum Schmunzeln. Etwa, wie er seinen Bruder in einer Werkstatt besuchte, in der dieser tätig war. „Warum arbeitest du nicht?“, habe er gefragt. „Weil ich keine Lust hab“, sei die Antwort gewesen. „Von sogenannten Behinderten kann man gut lernen. Sie spielen keine Spielchen, sondern sagen einem ziemlich direkt, was sie denken“, berichtet Völker. Aber er lässt auch durchblicken, dass der Weg bis zu solch kurzem und direktem Austausch schwer war: „Mein Bruder hat einige Jahre nach dem Unfall eine eigene Sprache entwickelt, die sehr reduziert war, mit der er aber mit Menschen kommunizieren konnte, die ihm nahestanden.“ Das Verhältnis zwischen den Brüdern entwickelte sich schließlich so eng, dass er Klaus zum wichtigsten Menschen im Leben seines Bruders Stephan wurde.
Vielsprachigkeit als Vergnügen
Um Sprache im weitesten Sinne geht es auch bei einer Fotoausstellung, die vom 1. bis 29. August 2015 in der Auferstehungskirche zu sehen ist. Die musikalische Lesung von Maria Knissel und Stephan Völker fand im Kontext der Ausstellung „Mehr babylonisches Vergnügen“ statt. Die Fotokünstlerin Jane Dunker zeigt hier Porträts von Menschen mit und ohne Behinderung, die vor einigen Jahren gemeinsam das Theaterstück „Babylon“ einstudiert haben. Das Theaterprojekt ist längst Geschichte, doch die Fotos berichten heute noch davon, wie fließend der Übergang ist zwischen dem, was als „normal“ deklariert, und dem, was als „krank“ eingeordnet wird. „Die Grenze zwischen behinderten und nicht behinderten Menschen ist in meinen Bildern eigentlich nicht zu erkennen“, so Dunkers Einschätzung. Vielmehr gehe es um den emotionalen Ausdruck, der ganz unabhängig ist von einer möglichen Behinderung.
Diese Erfahrung macht auch Chris, der Junge im Roman, als er eines Tages entdeckt, dass es dem älteren Bruder immer noch Spaß macht, mit ihm, dem kleineren, Ball zu spielen. Zwar muss ein Hummel-Porzellanengel der Mutter dran glauben, und diese wird sauer, da sie die gelöste, fröhliche Situation zwischen den beiden Brüdern nicht richtig erfasst. Aber all ihr Ärger kann doch die Nähe zerstören, die zwischen Chris und Klaus wieder einige Momente lang bestand. „Er hat gelacht. Und er hat „Ball“ gesagt“, entgegnet Chris der verärgerten Mutter trotzig. Mit diesen Worten fasst er zusammen, worauf es beim Phänomen Sprache vielleicht vorrangig ankommt: der Austausch zwischen zwei Menschen, die einander an ihrem Seelenleben teilhaben lassen. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Sprache reduziert ist. In diesem Sinne ist auch der Titel der Ausstellung, „Mehr babylonisches Vergnügen“, zu verstehen. „Vielsprachigkeit ist nicht unbedingt eine Strafe, sondern kann auch ein Vergnügen sein“, meint Jane Dunker.