Baufeld 12
Künstlerkolonie in Kalk — Pop-up-Ateliers in Abrisshäusern

Abriss und Neubau ganzer Quartiere, die nicht mehr dem heutigen Standard entsprechen, gehören immer wieder zum Alltag der GAG Immobilien AG. Aktuell ist das gerade im Stadtteil Kalk der Fall: „Ganz Kalk-Nord wird saniert“, berichtet Bernd Gräber, Leiter des GAG-Kundencenters Süd-Ost. Die neuen Häuser sollen nicht nur moderner, sondern durch mehr Tiefe in die Innenhöfe hinein auch größer werden und dadurch mehr Wohnfläche bieten. Für die Übergangszeit zwischen dem Auszug der bisherigen Mieter und dem Beginn der Arbeiten hat die GAG im Carré zwischen Lilienthalstraße, Steinmetzstraße und Dieselstraße etwas Neues gewagt: Zusammen mit KalkKunst, einem Projekt der Stiftung KalkGestalten, hat sie die Künstlerkolonie „Baufeld 12“ ins Leben gerufen. Von den insgesamt 111 Wohnungen im Carré wurden 27 als Pop-up-Ateliers an 33 Kreative aus Köln übergeben.
Mitinitiator dieser Idee war Bernd Giesecke, der bei der Stiftung KalkGestalten für den Bereich Kunst zuständig ist. „In jedem Stadtteil steckt viel Kreativität. Man muss sie nur rauskitzeln. Das Baufeld gibt den Menschen die Möglichkeit, kreativ zu werden“, beschreibt der Sozialarbeiter. Im Wissen, dass Kunstschaffende immer auf der Suche nach Räumen seien, entwickelte er mit Therese Ziegler von der GAG das Konzept, nach welchem sich Interessenten bewerben konnten. Die Vergabe der Wohnungen, die sich als Ateliers eigneten, erfolgte dann in der Reihenfolge der eingegangenen Nachfragen.
Die Künstlerinnen und Künstler sind begeistert – selbst jene, die hier ihre eigene Wohnung aufgeben mussten. „Ich wusste beim Einzug schon, dass das auf mich zukommt, habe es aber schon einmal erlebt“, sagt Uli Schwidden: „Die Ersatzwohnung, die ich über die GAG bekommen habe, hat in beiden Fällen gepasst.“ Nun wohnt er in Gremberg, kommt aber derzeit noch nach Kalk ins Baufeld, wo er jetzt in einer der Wohnungen ein Atelier für seine Gemälde, Objekte und Installationen aus Holz und Metall hat. „Es ist ein Segen, hier das ganze Material beisammenzuhaben. Vorher konnte ich nur bei schönem Wetter arbeiten“, verrät er.
Holz, Farben und Werkzeuge im früheren Wohnzimmer
Auch Arman Najari war einer der hiesigen Mieter, lebt heute in einer anderen GAG-Wohnung in Kalk und nutzt Räumlichkeiten im Baufeld derzeit als Atelier. „Ich bin darüber überglücklich“, sagt er. In seinen aktuellen Werken, die er unter dem Titel „Corona-Tagebuch“ zusammenfasst, beschäftigt er sich mit der Pandemie und den Sorgen, die sie ihm verursacht. Im Mittelpunkt seiner Arbeiten steht Holz, das er mit Farben und Brandmalerei gestaltet. „Für mich ist das kein Hobby, sondern eine Leidenschaft“, bekennt Najari, der hauptberuflich im Rettungsdienst tätig ist.
„Dieses Atelier ist ein Geschenk. Ich bin viermal in der Woche hier“, sagt Ulla Struve. Seit Jahren hat sie sich der Kunst verschrieben – erst neben ihrem Beruf, jetzt, seitdem sie in Rente ist, noch intensiver als zuvor. In ihrem Atelier, das einmal das Wohn- oder Schlafzimmer einer 3-Zimmer-Wohnung in Köln-Kalk war, finden sich Skizzenblöcke, Farben, Kisten mit Stoff. In einer Ecke ist ein weißes Spitzenkleid ausgestellt. Bei näherem Hinsehen entpuppen sich die Stickarbeiten als Botschaften wie „Du könntest hübsch aussehen“ und „Die Garderobe der Frau ist die Visitenkarte des Mannes.“ Ulla Struve schmunzelt, als sie das Werk erklärt: Solche Sätze habe man den Mädchen zu ihrer Zeit noch gesagt. Durch die ironische Verarbeitung distanziert sie sich von ihnen.
Sozialkritische Stickerei-Arbeiten
Stickerei macht auch die an der Wand hängenden Bilder aus Tuch, das mit Foto-Transfer bedruckt wurde, zu einem gesellschaftspolitischen Statement. In gestickten Zahlen prangert die Künstlerin an, wie ungleich die Erholungsflächen in der Stadt verteilt sind: 6,3 Prozent sind es in Kalk, während der grüne Stadtteil Sülz sich über 42,3 Prozent freuen darf. Stadtweit sind es immerhin 12,2 Prozent, verraten die Zahlen, die sie einer Statistik entnommen hat. Durch ihre Zeit im Pop-up-Atelier hat sich die Kölnerin, die in einem anderen rechtsrheinischen Kölner Stadtteil aufgewachsen ist, erst richtig mit Kalk auseinandergesetzt: „Ich habe als Kind nur Schlechtes über Kalk gehört. Als ich die Vorurteile überprüft habe, habe ich gemerkt: Viele stimmen gar nicht. Die Leute sind hier zum Beispiel sehr hilfsbereit.“ Ihre Eindrücke hatte sie in Kunstwerken verarbeitet, die im Pop-up-Atelier entstanden sind.
Auch Dietmar Frings findet, dass er in den vergangenen Monaten ein neues Bild vom Stadtteil Kalk bekommen hat. „Seitdem ich hier das Atelier habe, gehe ich auch mal kreuz und quer durch die Straßen. Es gibt viel Armut, aber ich empfinde es als sehr bunt und offen. Die Nachbarschaft kommuniziert sehr gut. Es gibt hier zum Beispiel einen älteren Herrn, der für die anderen Briefe aufsetzt: Das hat eine besondere Qualität, so wie früher“, findet er.
Skulptur für Menschen mit Fluchtgeschichte
Sein Atelier hat er in einem kleinen, spitz zulaufenden Zimmer eingerichtet, das vermutlich einmal ein Kinderzimmer war. Hier bearbeitet er Hölzer, aber auch Steine wie Alabaster, Travetin und Marmor, außerdem Leinwände. Die bemalt er mit einer Mischung aus Farbe und dem Mehl, das beim Steineschleifen entsteht. „Bildhauerei ist aber mitunter laut und dreckig, sie passt nicht in eine klassische Ateliergemeinschaft.“ Das Baufeld 12 ermöglicht ihm, sich kreativ zu entfalten und nicht, wie zu Hause am Küchentisch, die Arbeit immer wieder unterbrechen und wegräumen zu müssen.
„Das Meer hat keine Ängste“, heißt eine Arbeit aus Kirschbaum, die ein kleines Boot zeigt, das auf großen Wellen schaukelt. Mit der Skulptur erinnert Frings an die bedrohliche Situation von Flüchtenden im Mittelmeer. „Wir haben alle im Fernsehen die Boote gesehen, die untergegangen sind“, sagt er und bekennt: „Solche Themen haben mich aber künstlerisch vorher nicht beschäftigt.“ Während seiner Zeit in Kalk, wo er immer wieder Menschen mit Fluchtgeschichte begegnete, hat sich das gewandelt. Sofern er sein Werk mit dem kleinen Boot, das von Wellen umtost wird, verkaufen kann, möchte er den Betrag an ein Flüchtlingsprojekt in Kalk spenden.
Der Abschied wird traurig
Ein paar Häuser weiter hat Adrian Savulescu sein Atelier. Auch hier war vorher eine Wohnung. Helle Flecken an der vergilbten Wand lassen noch erkennen, wo vermutlich Postkarten oder Fotos hingen. Eine andere Wand haben Savulescu und ein Freund anthrazitfarben gestrichen, in der Mitte sind in hellen Tönen zwei Schwarz-Weiß-Fotos nachgemalt, die Szenen aus Kalk zur Jahrhundertwendezeit zeigen. Durch einen ausgefransten, gemalten Rand um die Bilder herum sieht die Wand aus wie die überdimensionale Seite eines alten Foto-Albums. Es sind Vorarbeiten zu einem Auftrag, der später an anderer Stelle in Kalk entstehen soll.
Savulescu ist Graffiti-Künstler. Einen Großteil der Außenfassaden des Carrés hat er mit anderen Sprayern zusammen gestaltet, im Innenhof auch einiges in einem Projekt, bei dem Kinder mitmachen durften. Vieles in seiner Kunst spielt sich draußen ab, trotzdem ist er froh, ein Atelier zu haben – nicht zuletzt als Basis für seine Leinwände und Farben. „Es ist gut für die Psyche, einen Arbeitsraum außerhalb der Wohnung zu haben“, findet Savulescu: „Es wird traurig, wenn wir hier raus müssen.“
Spannender Austausch in Künstlerkreisen
Dass die Werke, die er und andere Sprayer seit Beginn des Baufeld-Projektes an den Häusern erschaffen haben, zwangsläufig mit dem Abriss der Häuser zerstört werden, beschäftigt ihn aber nicht so sehr. „Graffiti ist an sich keine langlebige Kunst. Wenn man auf legalen Flächen arbeitet, an die jeder darf, ist etwas oft am nächsten Tag schon übersprüht – das sind wir gewohnt“, sagt er: „Es ist schon ein Novum, überhaupt die Gelegenheit zu haben, so großflächig an einem Straßenzug zu arbeiten!“ Seit er als Jugendlicher die Arbeiten eines Münchener Sprayers gesehen hat, hat er sich dem Graffiti verschrieben: „Ich war hin und weg! München war damals wegweisend, was Graffiti in Deutschland angeht. Für mich ist es immer noch ein Wunder: All das, was die großen Meister mit Ölfarben geschafft haben, kriegt man mit Dosen auch hin – egal, wie groß das Format ist.“ Im Baufeld, wo er naturgemäß viel außerhalb seiner Atelierräume gearbeitet hat, gefiel ihm, dass ein reger Austausch mit Künstlern auch aus anderen Sparten möglich war: „Das gab viele Diskussionen, neue Gedankenansätze und auch gute Kritik. Es ist interessant, den Blick des anderen zuzulassen“, findet er.
Im Sommer gab es Tage der Offenen Tür und Open-Air-Kinoveranstaltungen, bei denen alte Dokumentarfilme über Kalk gezeigt wurden. Im Stadtteil wird die Künstlerkolonie wohlwollend und interessiert beobachtet. „Die Leute neugierig sind und gehen teilweise sogar Umwege, um hier ein paar Fotos zu machen“, so Uli Schwidden.